Reise-Tagebuch 22.-30.05. / Heiki Ikkola


22.05. Dresden - Berlin
Wir sitzen im Zug nach Teheran, naja, nach Berlin, von dort fliegen wir über Istanbul in den Iran. Es geht über Land, Sachsen, Brandenburg, wo sich die Wolken wieder zusammen ballen und der Mai seine Freundlichkeit zurückzieht. – Der Himmel grau und nass, aber die Felder stehen saftig da, die Wälder und Wiesen grünen …
Wie werde ich den Iran diesmal erleben? – Sabines verständlicher Frust in Bezug auf das Kopftuch und die Kleiderregeln geben dem Ganzen im Vorfeld eine aggressive Note. Und vielmehr als bei den Reisen, die ich allein unternahm, wird deutlich, dass sich in den diskriminierenden Bestimmungen für das öffentliche Wirken und Erscheinen der Frauen das größte Problem des Iran äußert. … Das war immer ein Gedanke, wenn ich durch Teherans Straßen ging und die coolen Typen neben ihren kopfbetuchten Frauen sah: Ihr seid gar nicht cool, frei und offen, solange eure Frauen so neben euch erscheinen müssen.
Wir besuchen nicht den Staat Iran, sicher, nicht die Leute, die diese Bestimmungen verfechten (obwohl so eine Begegnung sicher auch mal irgendwann dran ist), aber dennoch: das beeinflusst, bestimmt die Frauen dort tagtäglich. Die Frauen vor Ort haben darin sicher eine gewisse Routine, für Sabine ist es der offensichtliche tägliche Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte. – Wenn wir unser gemeinsames Theaterstück auch im Iran zeigen wollen, können wir das zum Beispiel nicht zum offensichtlichen Thema unserer Arbeit machen, jedenfalls nicht „unverschleiert“. Die Zensur hat sich bereits in meinem Kopf verankert! …
Ich möchte lernen, reden, forschen. Was kann ich von den iranischen Frauen lernen?

22.05. Istanbul
Wir sitzen und warten, dass es weitergeht. Harry versucht engagiert, das Gespräch auf unseren Workshop und die Proben zu bringen, ich trudele mit meinen Gedanken zwischen Zeiten und Welten. Wir bleiben beim Thema Freiheit hängen. Was ist das eigentlich? Aus unserer Sicht? Aus der Sicht der Iraner? In den nächsten Tagen wird der Begriff immer wieder mal auftauchen, und er verschwimmt mir immer mehr. – Beim Reden landen wir dann in Pakistan, Indien, Israel, letztlich in Ruanda … so viele Themen, viele schmerzhafte Themen, die Harry und mich interessieren.
 
23.05. Teheran – Deutsches Archäologisches Institut im Norden der Stadt
Der freundliche Shahab hat uns vom Flughafen abgeholt, mit dem Taxi durch die nächtliche Stadt, Autobahn, so dass wenig zu sehen ist außer: Lichter, Straßen und Brücken, die unvermeidlichen Khomeini-Bilder.
Das Tor wird uns geöffnet, ein müder Hausmeister führt uns zu den Gästezimmern, in den Vorräumen stehen alte Bücher, Griechenland, antikes Rom … eine ehrwürdige verstaubte Bibliothek, mit Büchern, die sicher lange niemand angetastet hat. Im Park tschilpen, singen und krakeelen die Morgenvögel und unablässiges Rauschen tönt in Wellen heran, die erwachende Stadt. – Erst mal schlafen, ankommen und morgen kapieren, wo wir eigentlich sind. Bevor ich einschlafe, habe ich die Passagiere unseres Fliegers vor Augen. Bei der Ankunft in Teheran waren alle Frauen mit einem Kopftuch bekleidet – zuvor keine Einzige. – Fasching für die Sittenwächter? – Eine Iranerin, die gut deutsch spricht, schaut uns irgendwie solidarisch an und geht zu Sabine: „Du brauchst keine Angst haben.“ – und als wir mit unserem Gepäck zum Ausgang rollen, ruft sie uns noch einmal zu: „Viel Glück!“



23.05. Café-Haus in Darband
Das Geplapper der Café-Haus-Gäste, der Autolärm, die Vögel … alles verrauscht zu einem akustischen Schleier, hinter den ich nicht schauen und hören kann. Wo bin ich überhaupt, in Teheran, im bösen Staat Iran … das ist gerade alles ganz unwirklich … Die Farben, das Gebirge, die Kopftücher, das Treffen mit den freundlichen iranischen KollegInnen, die durstig sind, ihr Theater zu spielen, an dem sie Tag für Tag arbeiten, aber hier kaum öffentlich zeigen können und dürfen …

23.05. Gästewohnung im Institut
Etliche Gedanken sind heute herumgeschwirrt, Davoud hat seine Masken gezeigt, die er in den letzten Wochen für unser Projekt gebaut hat. Harry ist neugierig fragend unterwegs, alle versuchen, Fäden auszulegen, die von der Gruppe aufgenommen und versponnen werden, Fragen, die bleiben, Widersprüche, die nicht aufzulösen sind … Ein Treffen offener Menschen, mit dem Wunsch sich zu begegnen, etwas gemeinsam zu erforschen, zu entdecken und zu erschaffen.
Sabine liest eine moderne Geschichte von Ssadegh Tschubak vor, „Der Käfig“ – eine krasse Allegorie auf den Iran. Harry trägt mit freudigem Pathos die Liebesgeschichte von „Mandschun und Leila“ vor. Ich versuche, den Gesang der Vögel im Garten mit meinem neuen Recorder aufzunehmen, doch das gelingt nur auf dem Klangteppich des steten Verkehrsrauschens in der Stadt und des Flusses, der neben dem Grundstück durch die Felsen stürzt.


24.05. Nacht im Institut
Eine kleine Mücke auf ihrem nervigen kleinen Moped hat uns die ganze Nacht lang wach gehalten. Sabine hat voller Unruhe um sich geschlagen und geflucht. Ich bin noch mal runter ins Büro und habe im Bericht des Instituts gelesen – Ausgrabungen, Messungen, Schlussfolgerungen, Fotos, Tabellen, Skizzen, Landkarten … um dann gegen vier wieder ins Bett zu kriechen und nach  Attacken der Kamikaze-Mücke und einigem Herumwälzen endlich für ein paar Stunden einzuschlafen.

25.05.  Nach der Probe am Haft-e-Tir-Platz
Es ist Freitag in Teheran, also Sonntag in unserem Verständnis und wir beginnen die gemeinsame Probenarbeit in einem armenischen Freizeitclub. Samson, der alte Hausmeister, gehört hier schon mehr zum Inventar, als dass er sich um dieses kümmert. Dafür sitzt er auf seinem Stuhl, der schon seit vierzig Jahren der seine ist und fragt Shahab mit seiner lallenden Stimme aus, über alles, was wir gerade tun.
Harry führt uns mit seiner charmant offenen und positiven Art in einfachen Übungen des Kennenlernens und ersten Improvisationen durch den Tag, stets bedacht, uns aufmerksam zu halten, unsere Meinung zu erfahren und im Einfachen das Wesentliche zu suchen. Ich fühle mich zurückversetzt in die Zeiten vor meinem Studium und des ersten Studienjahres und alles fühlt sich an wie Beginn. – Frauen und Männer arbeiten ohne Barrieren zusammen, keinerlei Kontakt- und Berührungsgrenzen existieren, außer denen des natürlichen Respekts. Zur Mittagspause haben die Kollegen etwas vorbereitet – wir befinden uns in einem herrlichen Probencamp inmitten der wilden Stadt, ganz der Arbeit gewidmet, zwischenzeitlich vergessen wir sogar, dass wir in Teheran sind, sind einfach eine Gruppe von Menschen zweierlei Nationalitäten, die einander arbeitend, spielend begegnen. Gegen Mittag fällt der Strom aus, das gibt uns den Takt für die Pause.
Was blieb hängen heute? – Mit Davoud das Blinden-Führ-Spiel spielen – er düst wie ein wilder los, angetrieben von dem Wunsch zu spielen, zu beginnen, zu arbeiten. Ein Druckkessel, der sich endlich entladen möchte. – Jeder bekommt eine Minute geschenkt, den anderen etwas vorzuspielen …
Wir fahren zum Künstlerhaus in der Hoffnung, noch Karten für Lorcas „Yerma“ zu bekommen, aber alles ist ausverkauft und wir versuchen es übermorgen nochmal.
Sabines Frage an Shahab, was er am Iran am meisten mag, kann er nur schwer beantworten – schließlich findet er eine schöne Antwort und das ist eine Liebeserklärung an all seine Freunde, denen er vertraut, die er immer anrufen könnte, auch des Nachts, diese Energie der jungen Leute in diesen Zeiten, das ist etwas sehr bedeutendes für ihn, das für ihn derzeit „Heimat“ ausmacht.

25.05. Deutsches Archäologisches Institut im Norden der Stadt
Die Leiterin des Instituts, Frau Hakimpour, unsere Gastgeberin, ist eine witzige Frau. Ihr trockener norddeutscher Humor ist eine komische Zutat in den Kulturmix, den wir hier erleben. Kaum vorstellbar, dass sie bereits dreißig Jahre hier wohnt, wenn man sie hört, glaubt man, jemand hätte sie, ausgestattet mit der nötigen Orts- und Kulturkenntnis von Schleswig-Holstein soeben nach Teheran katapultiert.
Ich kann das Erlebte der Tage kaum festhalten, reflektieren – alles ist so voll! – Ehrlich und mit vollem Einsatz gespielt, sind die von Harry eingebrachten Grundlagenspiele unglaublich kraftzehrend, es ist wie im ersten Studienjahr, als jeden Tag eine neue Tür aufging.
Als uns die drei Frauen heute eine Szene vorspielten, deren Ausgangspunkt die Beschäftigung mit Stoff und Körper war, hat das unsere Herzen aufgewühlt – hernach im Café saßen wir wie wirklich Vertraute und Komplizen beisammen …
Wir haben die Aufgabe, Rituale zu zeigen, zu spielen, die uns in irgendeiner Weise wichtig sind. Ich war völlig geflasht von Sabines „Biografie in Ritualen“ – so würde ich diese Szene mal nennen. Shahab putzte seine Trompete, schön, nur die Hände und die Dinge zu betrachten.


 27.05. Ein Vormittag auf dem Basar
Der Bazaar von Teheran, eine riesige Marktstadt. Wir haben Aufgaben bekommen, es gilt Menschen zu beobachten, die wir später in Szenen nachempfinden, die uns zu Figuren und Szenen inspirieren, Dinge kaufen, die wir in Szenen verwenden oder irgendwie für eine Ausstattung verwenden können. – Mehere Stunden dort, das raubt einem die Sinne, ein Labyrinth aus Stimmen, Geräuschen, Gerüchen, Licht, neu und alt, Ruhe und Hektik.
Den Gegenstand, den ich ins Auge gefasst hatte, habe ich dann letztlich nicht gekauft, weil ich mich nicht noch einmal hinein ins Labyrinth aufmachen wollte. Eine Gebetskette habe ich mir dann gekauft … und da ging ein Mann umher, den zu beobachten, interessant und beängstigend war. Er würgte und arbeitete förmlich an seiner Gebetskette herum, leckte seine Hand ab und fingerte unvermittelt in seinem Gesicht und an seiner Hose herum … 

 

Der Mann, dem ein Finger fehlt und der mit einem Stift auf die Schreibmaschinentasten klopfend für Interessenten Amtsbriefe verfasst. Ein Job im Freien und offensichtlich gibt es genug Nachfrage, es lebe die Bürokratie.  

Am Ende des gestrigen Tages war plötzlich denkbar, wie eine Inszenierung mit uns allen aussehen könnte. Harry schickte uns einfach alle gemeinsam auf die Bühne, alle machten ihre Rituale parallel - mal stoppten alle und waren fokussiert auf des Ritual eines Einzelnen, es gab fliegende Wechsel von einem zum anderen - schließlich traten alle gemeinsam an den Bühnenrand, sahen ins Publikum, sahen einander an und wieder hinaus, als solle dieses Bild sagen: "Ja, das sind wir."

Bis morgen, soll jeder noch einmal ein Ritual vorbereiten, eines, das in meinem Land viele Menschen machen oder gemacht haben. - Und mir vielen die blödsinnigen Meldungen, die wir als Pioniere machen mussten, wenn der Unterricht begann, oder als Wehrdienstleistende, wenn wir uns zur Nachtruhe am Bett aufstellen mussten, um unsere "Uniformpäckchen" und Schränke kontrollieren zu lassen. Das werde ich wohl spielen.Wenn ich nun all diese Dinge durchgehe, auswähle und die Handgriffe nachvollziehe, stelle ich fest, wie sehr das doch alles in mir eingeprägt ist, unglaublich, dabei ist das doch nun schon ein halbes Jahr her! Ich kann die Texte der Lieder auswändig, die ich seit meiner Schulzeit nicht mehr gesungen habe, ich kann den unangenehmen Geruch des Unteroffiziers riechen, der mich in der Magdeburger Kaserne drangsaliert hat.

30.05. Zeit-Sprung
Die vollen Tage erlauben kaum, alles detailliert festzuhalten. Ich stelle fest, dass drei Probentage in meinem Tagebuch fehlen und bin sehr froh, dass der gewissenhafte Max dabei ist und ich hernach alles noch mal in seinen Protokollen nachlesen kann. Zum Beispiel all die Rituale: Sabine putzt die Schuhe für den Nikolaus, Shahab geißelt sich für den Märtyrer Hossein, Davoud vollzieht einen traditionellen Exzorzismus mit einem Ei und Münzen, Massi wird noch einmal zum Kind und dreht sich eine gefühlte Ewigkeit lustvoll im Kreis, Harry versucht, sich in ein kleines Mädchen hineinzuversetzen, dass von nun an den Tschador tragen soll .... Und die kleinen Szenen zum Thema "Freiheit" - wie schwammig dieser Begriff am Ende doch ist ... Ich renne immer wieder gegen eine reale Wand an und erlebe am eigenen Leib, was das heißt, da immer wieder abzuprallen ....
Und dann geht alles so schnell ... wir hätten noch sooooo viel ausprobieren müssen, sollen, auch Szenen zu zweit zu dritt, als Gruppe. Wir packen geradezu hastig alles zusammen, müssen den Raum verlassen, der in den sechs Tagen zum Ort unseres Denkens und Ausprobierens geworden ist. Morgen früh geht es um halb fünf auf gen Kashan!