Brief an Harry

Am kommenden Montag beginnt unsere Endprobenwoche, Harald Fuhrmann, der uns auf unserer Reise nach Teheran begleitete und den Begegnungsworkshop mit Paradata leitete, wird für drei Tsge wieder bei uns sein. Wir sollte man ihm die Lage am besten beschreiben!

"Lieber Harry,
nun ists noch eine Woche bis zur Premiere und effektiv haben wir noch drei Probentage.
Alles bleibt spannend.
Was für ein Theaterprojekt spukte in meinem Kopf herum, bevor das alles richtig losging - und was wird nächste Woche an drei Abenden tatsächlich über die Bühne gehen? ... Das Ganze hat auf jeden Fall bis hierhin sooo viel Kraft gekostet und bis jetzt bleibt für mich die Frage, was die Kollegen von Paradata eigentlich im Theater und mit ihrem Theater wollen. ...
Eine gewisse Lethargie schwebt über dem Projekt, ein Fragen, ein Zögern, eine Melancholie, die dem Iranischen auch irgendwie eigen ist. Verstärkt durch Rezas Rückenleiden, das die ganze Zeit präsent ist und die Arbeitsstimmung beeinflußt. ... Wie politisch wollen wir sein? ... Das Signal ist immer: Wir sind eigentlich gar nicht politisch und interessieren uns nicht für Politik. Wir wollen einfach nur Theater machen. Wir sind underground, weil wir uns nicht anpassen wollen ... Und dann aber diskutiert Reza, den Frauen bei der Vorstellung Kopftücher aufzusetzen, da die Videoaufnahmen für die Bewerbung an einem Teheraner Theater genutzt werden sollen.
Harmlose, müde Clowns, die weder tieftragisch, noch wirklich lustig sind. - Bei Davoud gibt es dieses Brennen, eine Kraft, die sich immer wieder aufbäumt und dann merkwürdig ins Leere schlägt. Die drei Männer haben eine zwölfjährige Geschichte miteinander voller Widersprüche, Hoffnungen, Rückschläge ... keiner weiß so recht, wohin. Reza laboriert seit vier Jahren mit seiner Wirbelsäule und dem Bandscheibenvorfall herum, der Tod für einen Pantomimen eigentlich ... macht aber auch kaum Übungen, kann sich nicht für eine OP entscheiden und schluckt Schmerztabletten wie Lebensmittel.
Shahab steht eigentlich seit geraumer Zeit vor seinem Militärdienst, den er natürlich nicht machen will und immer wieder hinauszuschieben versucht. Aber im Grunde ist sein Leben gerade ein Áussitzen dieser Situation,
Und Davoud, der wilde, nach Liebe suchende Herakles, würde gerne riesige Steine wegrollen, weiß aber gar nicht recht, warum, für wen und für was. Er hadert mit seinem Land der eigenen Situation dort, den hemmenden Bedingungen für seine Theaterarbeit ... aber sind es nur die Bedingungen im Land, ist er es nicht vor allem selber? Haben die Bedingungen die Menschen zu denen gemacht, die sie jetzt sind? - Ein Land, das wartet, so wird der Iran auch gerade immer wieder beschrieben ...
Ich schreibe dir das alles, weil du nächste Woche drei Tage mit uns sein wirst - eine weitere Stimme und Meinung wird im Raum sein ... schon jetzt herrschen hier babylonische Verhältnisse ...
Wenn wir uns die "Konferenz der Vögel" als eine Dramaturgie oder Beschreibung unserer Arbeit hernehmen wollten, befänden wir uns sicher gerade im Tal der Verwirrung, gar nicht so fern vom eigentlichen "Ziel". Und die Idee, das Epos von Attar weiterhin als eine Folie für unseren Weg zu betrachten, gefällt mir nach wie vor: Am Ende werden und können wir nichts anderes erblicken als uns selbst, und dennoch das eine nicht zu beschriebene Ganze, dass wir dann auch unweigerlich sind ... wir haben diesen wunderbaren, zauberhaften, schwierigen und manchmal nervtötenden Weg gemeinsam zurückgelegt ...
Manchmal frage ich; wo bleibe ich da eigentlch in diesem Theaterprojekt, wo ist meine Perspektive, meine Art Theater zu machen, meine Rolle? - Ich habe mir das Seemannskostüm gewählt, nimmerrastender Weltentdecker, seine ewigen Begleiter: die Zeit und der Tod ...
Es sit ein disparates Material entstanden, Teheran war zwischenzeitlich sooo weit weg und die Frauen haben es letzte Woche wieder ganz lebendig mitgebracht. Was erzählt das Material eigentlich, was da jetzt vorhanden ist, was erzählt es über unsere Begegnung, wo ist die Brisanz, Relevanz, unser Leben, unsere Ideale, Theater zu machen?
In Improvisationen, die wir unter Daniels Anleitung gemacht haben, entstanden dan wieder überraschende und lebendige Momente ... strukturelle und rhythmische Aufgaben waren darauf angelegt, Bedingungen zu schaffen, spannende Momente, Begegnungen und Kontrapunkte entstehen zu lassen und sie im Vorfeld planen zu können ...
Vertiefung, Zuspitzung und solche Sachen waren schwierig zu machen in dieser Arbeit - vielleicht nun deshalb diese Improvisationen, um Elemente des Unmittelbaren und Lebendigen zu erzeugen ... das bleibt natürlich völlig unplanbar.
Nun haben wir demokratisch über eine Stückstruktur abgestimmt, die besteht jetzt aus drei Sektionen, der letzte davon wird eine halbstündige Improvisation sein, eine riskante und spannende Aufgabe ...
Wenn du am 03.09. zu uns kommst, wird es nicht darum gehen, dass du der starke Mann bist, auf den möglicherweise manche schon eine ganze Weile warten, die lenkende und leitende Hand ... Unsere Arbeit ist ja auch ein Experiment in Sachen kollektiver Selbstorganisation mit all ihren Schwierigkeiten und Hindernissen. - Aber DU bist ein Teil dieser Begegnung, ein guter Beschreiber und Impulsgeber. - Vielleicht bist du auch völlig ratlos - kannst aber vielleicht die eine oder andere entscheidende Frage stellen ...
Es gitb so viele interessante Details im Umfeld, Momente und Irritationen zu beschreiben - aber ich mache hier erst einmal Schluss und freue mich auf dein Kommen!!!!
Grüße Heiki."